Autoritarismus-Studie 2022: Hohe Wertschätzung für die Demokratie bei anhaltenden Herausforderungen

Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten

Die Bürgerinnen und Bürger stehen mit großer Mehrheit hinter der demokratischen Grundordnung unserer Republik, der »harte Kern« antidemokratischer Milieus wird kleiner.

Allerdings sind nur sechs von zehn Befragten mit den gelebten demokratischen Prozessen zufrieden.

Dies sind zwei wichtige Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus-Studie, die heute erschienen und in Berlin von den Autoren Prof. Dr. Oliver Decker und Prof. Dr. Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig vorgestellt worden ist.

Die Studie mit dem Titel »Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten« ist in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung entstanden. Seit 2002 erscheinen die »Leipziger Studien« und zum inzwischen elften Mal spüren sie demokratischen wie antidemokratischen, pluralistischen wie autoritären Einstellungsmustern nach.

Die neuen Zahlen belegen eine starke Abnahme des Personenkreises mit geschlossen rechtsextremem Weltbild, insbesondere in Ostdeutschland. Damit bestätigt sich die bereits 2020 konstatierte Verfestigung extremistischer Milieus bei rückläufiger Gruppengröße. Traditionelle antisemitische Einstellungen sind weiter rückläufig. Seit der ersten Erhebung der Leipziger Forscher im Jahr 2002 waren sie noch nie auf so niedrigem Niveau wie dieses Jahr.

Schon bekannte Problemlagen bleiben aber bestehen. So deutet die mehrheitliche Unzufriedenheit mit der gelebten demokratischen Praxis hin auf wechselseitige Missverständnisse zwischen politischen Akteur:innen und der Bevölkerung, auf womöglich irrtümliche Vorstellungen von Demokratie, aber auch auf substantielle Probleme in den realen politischen Prozessen. 

Dazu kommt: Ausländerfeindliche Einstellungen verharren auf hohem Niveau oder nehmen sogar in den ostdeutschen Bundesländern zu. Chauvinistische Positionen teilt jede/r fünfte junge Ostdeutsche zwischen 16 und 30 Jahren, damit sind diese Positionen in der jungen ostdeutschen Generation deutlich stärker verhaftet als in der restlichen Bevölkerung.

Weit in der gesamten Gesellschaft verbreitet sind zudem antifeministische und sexistische Einstellungen. Nicht selten gehen sie einher mit anderen Ressentiments wie etwa Homo- und Transfeindlichkeit und zeigen sich eng verwoben mit einem traditionellen Männlichkeitsbild und einer dogmatisch-fundamentalistischen Religiosität.

»In Zeiten multipler Krisen sind empirische Fakten und Einblicke in die Gesellschaft wichtiger denn je«, sagt Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und verweist auf die daraus resultierenden Handlungsbedarfe. »Die Studie zeigt: Wir brauchen eine engagierte demokratische Bildungsarbeit für die vielfältige, liberale Demokratie. Einen Gewöhnungseffekt an autoritäres Gedankengut darf es nicht geben.«

Insbesondere für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit interessant sind Ergebnisse über die erstmals erhobenen »gesellschaftlichen Konfliktbilder von Lohnabhängigen«. Hier zeigt sich, dass von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sofern ein profiliertes Bewusstsein über gesellschaftliche Konflikte vorhanden ist, stets sozioökonomische Interessensgegensätze als maßgebliche gesellschaftliche Widersprüche wahrgenommen werden.

Konflikte, die sich auf Religion, unterschiedliche Herkunft oder Geschlecht zurückführen lassen, werden von abhängig Beschäftigten hingegen als weitaus weniger prägend für unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben angesehen. »Die Ergebnisse sind ein deutlicher Auftrag an Gewerkschaften und Betriebsräte, auch weiterhin für politische Gestaltungsvorschläge zu streiten, die ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit für Alle zum Ziel haben«, so Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung. Er sieht darin auch ein Mittel, den weit verbreiteten politischen Ohnmachtsgefühlen erfolgreich entgegenzuwirken.

Die Heinrich-Böll-Stiftung und die Otto Brenner Stiftung ziehen als Akteure der politischen Bildung aus der aktuellen Befragung den Schluss, dass neben der Befähigung zur politischen Beteiligung gleichermaßen ein realistisches Verständnis demokratischer Prozesse bei Jung und Alt vermittelt und konkrete Verbesserungen der politisch-institutionellen Praxis angemahnt werden müssen.

Hintergrund
Am 9. November 2022 erschien die diesjährige Leipziger Autoritarismus-Studie. Seit 2002 analysieren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Universität Leipzig die Entwicklung autoritärer und rechtsextremer Einstellungen in Deutschland. 

Zwischen Anfang März und Ende Mai 2022 wurden bundesweit 2.522 Personen mit Wohnsitz in Deutschland vor Ort befragt. Die Untersuchung ist repräsentativ für die deutschsprachige Bevölkerung der Bundesrepublik ab 16 Jahre.

Die Studie »Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten« erscheint im Psychosozial Verlag: https://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/cPath/1000/products_id/3175


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