Ein Drittel der Bevölkerung droht, sich vom politischen Diskurs abzukoppeln

Abgekoppelt oder angebunden? Neue Studie zur politischen Öffentlichkeit
Eine aktuelle Studie der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) zeigt, dass rund ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland deutliche Tendenzen zur Abkopplung vom politischen Diskurs aufweist.
Die Untersuchung identifiziert sechs unterschiedliche Meinungsbildungstypen, die sich in ihrem Informationsverhalten, ihrer Meinungsstärke und ihrer Anschlussfähigkeit an den gesellschaftlichen Diskurs klar unterscheiden.
Typen der Meinungsbildung
Die Studie basiert auf einer Kombination aus qualitativen Tiefeninterviews und einer repräsentativen Online-Befragung. Dabei wurden folgende Typen herausgearbeitet:
Rechte: BLM Bayerische Landeszentrale für neue Medien
- Offensive Meinungskämpfer (16 %): Sie informieren sich sehr systematisch, sind meinungsstark und konfliktbereit. Häufig vertreten sie populistische Positionen und nutzen bevorzugt digitale und alternative Medien.
- Anspruchsvolle Meinungsoptimierer (21 %): Sie setzen auf faktenorientierte, multiperspektivische Information, vertrauen klassischen Medien und suchen Konsens.
- Flexible Meinungspragmatiker (28 %): Sie informieren sich beiläufig, meist aus praktischen Gründen, und legen weniger Wert auf Tiefe und Systematik.
- Empörte Meinungsanhänger (12 %): Ihr Informationsverhalten ist selektiv und emotional geprägt. Sie suchen gezielt nach Bestätigung ihrer Ansichten, häufig in alternativen Medien oder bei Influencer*innen, und zeigen ein hohes Maß an Misstrauen gegenüber klassischen Medien.
- Ängstliche Selbststabilisierer (9 %): Sie fühlen sich durch politische Informationen überfordert, konsumieren Medien nur beiläufig und sind politisch unsicher.
- Eskapistische Meinungsmitläufer (14 %): Sie meiden politische Themen weitgehend, bevorzugen unterhaltende Inhalte und zeigen dennoch teils überraschend extreme Meinungen. Ihr Vertrauen in Informationsquellen ist gering, sie orientieren sich an persönlichen Kontakten.
Wer ist angebunden, wer abgekoppelt?
Rund zwei Drittel der Bevölkerung sind laut Studie noch an den politischen Diskurs angebunden. Besonders anschlussfähig sind die Anspruchsvollen, Flexiblen und Offensiven. Ein Drittel zeigt jedoch deutliche Abkopplungstendenzen – vor allem die Ängstlichen, Eskapistischen und Empörten.
Diese Gruppen verfügen über geringe Informationskompetenz, nutzen Medien selektiv oder emotionalisiert und haben ein geringeres Vertrauen in klassische journalistische Angebote. Sie sind dadurch anfälliger für einfache Botschaften und Manipulation.
Ursachen und Risiken der Abkopplung
Die Gründe für die Abkopplung sind vielfältig: Ängstliche ziehen sich aus Überforderung zurück, Eskapisten meiden politische Inhalte aus Desinteresse, während Empörte gezielt nach Bestätigung in vertrauten Meinungsräumen suchen.
Alle drei Gruppen sind laut Studie nicht ausreichend durch faktenbasierte, vielfältige Informationen geschützt. Ihre Anbindung an die politische Öffentlichkeit ist zwar teilweise noch vorhanden, sie kann aber weiter schwinden, wenn keine gezielten Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Wie können abgekoppelte Gruppen wieder erreicht werden?
Die Studie empfiehlt, Kommunikationsstrategien gezielt auf die Bedürfnisse der abgekoppelten Gruppen zuzuschneiden:
- Für Ängstliche: Sicherheit, Orientierung und vertrauensvolle Personen statt abstrakter Information. Lokale, alltagsnahe Themen und kompakte, verständliche Formate können helfen.
- Für Eskapisten: Niedrigschwellige, unterhaltende Formate in einfacher Sprache, die politische Themen indirekt über Alltagsbezüge vermitteln.
- Für Empörte: Räume für respektvollen Dialog, in denen unterschiedliche Perspektiven ohne Konfrontation zugelassen werden. Multiplikator*innen und Influencer*innen mit Reflexionskompetenz könnten als Brückenbauer wirken.
Wichtig für alle Gruppen sind eine verständliche Sprache, emotionale Anschlussfähigkeit und konkrete persönliche Relevanz. Die Studie betont, dass mehr Information allein nicht ausreicht – entscheidend sei die soziale und emotionale Einbettung politischer Inhalte.
Demokratie braucht Anschlussfähigkeit
Die BLM-Studie macht deutlich, dass die politische Meinungsbildung in Deutschland zwar vielfältig ist, aber nicht für alle gleichermaßen stabil oder anschlussfähig bleibt.
Die größte Herausforderung für die Demokratie besteht darin, auch jene Menschen wieder zu erreichen, die sich vom Diskurs abwenden oder bereits abgekoppelt haben. Nur so lässt sich gesellschaftliche Teilhabe und ein stabiler demokratischer Diskurs langfristig sichern.
Ähnliche Themen in dieser Kategorie
Die Unverzichtbaren: Basisarbeit und Demokratievertrauen im Wandel Die neue Studie »Die Unverzichtbaren« des Progressiven Zentrums rückt die Situation von Menschen in Basisarbeit ins Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Debatte. Sie analysiert, wie sich unsichere …
Einsamkeit als demokratiepolitische Herausforderung: Junge Menschen zwischen Isolation und Engagement In Deutschland fühlt sich fast jede*r zweite junge Erwachsene zwischen 16 und 30 Jahren zumindest zeitweise einsam. Besonders betroffen sind Menschen ohne Arbeit, mit …
Die Studie »Demokratie und Bildung 2024« der IU Internationale Hochschule untersucht die Zufriedenheit der deutschen Bevölkerung mit der Demokratie und beleuchtet die Rolle der Bildung in diesem Zusammenhang. Die Erhebung, die vom 17. bis 29. Mai 2024 unter 1.213 Personen im …
Kinder und Jugendliche verbringen täglich gut zwei Stunden am Smartphone Eine neue Bitkom-Studie zeigt, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland durchschnittlich zwei Stunden täglich mit ihrem Smartphone verbringen. Dieser Artikel analysiert die Ergebnisse der Studie und …