Faszination, Fehlinformation, Halluzination

Patrick BriggerEin Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Patrick Brigger, Schweiz.

KI in der HR-Branche: Faszination, Fehlinformation, Halluzination

Ein futuristisches Märchen oder der kommende Albtraum? Künstlicher Intelligenz wird vieles nachgesagt: Sie könnte den Kampf um Talente revolutionieren, sagen die einen. Sie würde einen wahren Sturm an falschen Informationen verursachen, die anderen. Wie lässt sich die Technologie nutzbringend im Personalwesen einsetzen?

Im Angesicht des allgegenwärtigen Fachkräftemangels und des heftig umkämpften »War for Talents« hat die Personalentwicklung alle Hände voll zu tun: Das Halten von Talenten wird immer schwieriger, während es gleichzeitig eine Herkulesaufgabe ist, sie überhaupt erst zu finden und zu gewinnen. Daneben steigen die Anforderungen an die Kompetenzen und Fähigkeiten der in einem Unternehmen Beschäftigten.

Der rasante technologische Fortschritt erfordert diese ständig weiterzubilden und anzupassen. Einerseits steigt der Druck, die für einen Job passende Person zur richtigen Zeit zu finden und andererseits muss die Effektivität und Effizienz der HR-Maßnahmen ständig überwacht und verbessert werden. Als wären diese Aufgaben nicht genug, halten Personalabteilungen die Unternehmenskultur aufrecht und verbessern diese, was angesichts der zunehmenden Vielfalt und Komplexität der Belegschaft herausfordernd ist. All dies geschieht vor dem Hintergrund wachsender regulatorischer Anforderungen und dem Bedarf an mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht in den HR-Maßnahmen. Kein Wunder also, dass sich in der Branche Verantwortliche fragen: Wie sollen sie dieser Fülle an Anforderungen begegnen?

Ist Künstliche Intelligenz die Antwort?

Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen sind Universaltechnologien – nur Unternehmen, die sie nutzen, haben eine Zukunft, heißt es. In einer Bitkom-Umfrage von 2021 erwarten 44 Prozent der Befragten schnellere und präzisere Problemanalysen, 39 Prozent rechnen mit der Vermeidung menschlicher Fehler und knapp ein Drittel erhofft sich durch KI-Systeme Expertenwissen, das sonst nicht vorhanden wäre. Und diese Umfragen wurden vor ChatGPT gemacht – heute hat KI auch die große Masse erreicht und alle erkennen das große Potential der Technologie.

Aber welche Fähigkeiten hat die Technologie? Ihre Stärke liegt in der Datenverarbeitung. KI-Modelle können Unmengen an Informationen analysieren und Muster erkennen, die für den Menschen nicht offensichtlich sind. Sie treffen Vorhersagen und machen Vorschläge, die auf dieser Analyse basieren. Richtig eingesetzt, sind diese Modelle in Bereichen wie der Talentakquisition und dem Personalmanagement von großem Nutzen, um beispielsweise geeignete Kandidaten zu identifizieren.

Wo lassen sich KI-Modelle in Personalabteilungen einsetzen?

KI-Chat-Bots können Bewerberfragen beantworten, Termine vereinbaren und sogar Vorinterviews durchführen. Sie ermöglichen Personalverantwortlichen, sich auf qualifiziertere Kandidaten zu konzentrieren. Ein gutes Beispiel dafür ist der Chatbot Meya, der bereits erfolgreich in vielen Unternehmen eingesetzt wird. In folgenden Bereichen leisten solche Bots in Personalabteilungen gute Dienste:

  • Rekrutierung und Bewerberauswahl
    Hier durchsucht eine KI Lebensläufe und sortiert sie, um jene Talente zu identifizieren, die am besten zu den Jobanforderungen passen. Einige fortschrittliche KI-Systeme sind sogar fähig, Interviews durchzuführen und Bewertungen basierend auf den Antworten abzugeben. Bots können auch genutzt werden, um Bewerberfragen zu beantworten und den Bewerbungsprozess zu automatisieren.
  • Onboarding
    Nachdem ein neuer Mitarbeitender eingestellt wurde, erleichtern KI-Modelle den Onboarding-Prozess, indem sie ihn automatisieren. Sie können eine personalisierte Erfahrung schaffen, die auf den spezifischen Bedürfnissen und Anforderungen des Mitarbeitenden basiert.
  • Mitarbeiterengagement und -entwicklung
    Individuelle Entwicklungspläne, Leistungsbeurteilungen, Schulungsprogramme? Auch hier hilft KI, diese zu erstellen, auszuarbeiten und zu personalisieren. Außerdem kann sie das Engagement der Mitarbeitenden überwachen und Maßnahmen vorschlagen, um es zu verbessern.
  • Personalverwaltung und -planung
    Personalverantwortliche können die Technologie einsetzen, um Urlaubsanträge zu bearbeiten, Schichtpläne zu erstellen und Lohnabrechnungen zu verarbeiten. Auch bei der Personalplanung ist sie eine Hilfe, indem sie Vorhersagen über den zukünftigen Personalbedarf trifft.
  • Abwesenheitsmanagement und Mitarbeiterbindung
    Abwesenheitsmuster sprechen eine deutliche Sprache. Mit ihnen lassen sich frühzeitig Anzeichen von Burnout erkennen, sodass das Unternehmen rechtzeitig unterstützen kann. HR-Abteilungen bekommen auch Maßnahmen vorgeschlagen, um die Bindung der Mitarbeitenden zu verbessern.

Die Grenzen künstlicher Intelligenz

Eines muss allerdings jeder Personalabteilung bewusst sein, wenn sie auf KI-Modelle zurückgreift. Es sind zwar mächtige Werkzeuge, aber sie sind nicht unfehlbar: Ihre Fähigkeiten sind auf die Qualität und Quantität der Daten, mit denen sie trainiert werden, angewiesen. Und künstliche Intelligenz stößt an ihre Grenzen, wenn es um Kontexte oder die feineren Nuancen menschlicher Interaktion geht. Auch kennen sie (zumindest heute) Begriffe wie Richtig/Falsch, Gut/Schlecht oder Ethisch/Verwerflich nicht. Nutzen Unternehmen sie ohne angemessene menschliche Aufsicht, kann das zu Fehlinformationen führen, die mehr schaden als nutzen.

Sie könnten zum Beispiel geschlechtsspezifische und ethnische Vorurteile aus den Ausgangsdaten weitertragen, wenn sie Kandidaten für Jobs empfehlen oder vorhersagen, ob sie sich für eine Beförderung eignen. Da diese Modelle Schwierigkeiten haben, menschliche und kulturelle Zusammenhänge zu verstehen, ist es durchaus möglich, dass sie wichtige Informationen in Bewerberunterlagen oder Mitarbeiterbewertungen falsch interpretieren. Elternzeit oder eine Lücke aufgrund von Arbeitslosigkeit? Über solche einfachen Fragen stolpert ein KI-Modell. Mit ungenauen, unvollständigen und wenig repräsentativen Daten gefüttert, irrt das System auch, wenn es vorhersagt, dass ein Mitarbeitender das Unternehmen vermutlich verlassen wird.

Ohne menschliche Aufsicht geht es nicht

Einer der Hauptnachteile für die HR-Branche ist die Schwierigkeit von KI-Systemen, die feineren Nuancen und Kontexte zu verstehen, die in menschlichen Interaktionen und Kommunikationen eine entscheidende Rolle spielen. Dies bedeutet, dass trotz der Fähigkeit der KI, strukturierte Aufgaben zu automatisieren, der menschliche Eingriff für die Interpretation und das Verständnis des Kontexts notwendig ist.

Personalentscheidungen basieren häufig auf »weichen« Faktoren, die schwer zu messen und zu quantifizieren sind. Dies schließt Aspekte wie die Übereinstimmung mit der Unternehmenskultur, Persönlichkeitsmerkmale und soziale Fähigkeiten ein. KI-Systeme sind in ihrer derzeitigen Form nur begrenzt in der Lage, solche Faktoren zu bewerten. Schließlich ergeben sich diese Faktoren besonders im zwischenmenschlichen Umgang und bei Gesprächen, an denen keinerlei Maschine beteiligt ist. Diese Aspekte unterstreichen, wie wichtig es ist, KI als Assistenz und nicht als Ersatz für menschliches Handeln zu verstehen – auch in Zeiten zunehmender Automatisierung durch KI.

Das Menschenleben bleibt eine ständige Schule

Es gibt daher auch keinen Grund zu befürchten – oder zu hoffen –, dass KI den Aufwand menschlichen Lernens ersetzt. Das tut die Technologie nicht. Sie ergänzt. Ihre Stärke liegt darin, große Datenmengen analysieren und Muster erkennen zu können, die dem menschlichen Auge oft entgehen.

Das ist wichtig zu verstehen: Trotz all ihrer Fähigkeiten, ist die KI immer nur so gut wie die Daten, mit denen sie gefüttert wird. Kritische Analyse oder kreative Problemlösungen – beides ist ihr unmöglich. Es sind menschliche Faktoren wie Intuition, Emotion und Erfahrung, die diese Lücken füllen. Und darin liegt die Zukunft. In der HR-Branche, wo die menschliche Interaktion im Mittelpunkt steht, wird der menschliche Faktor immer unerlässlich sein.


 

Quelle: Autor

Patrick Brigger ist Mitgründer und Vorsitzender von getAbstract.

Seinen Ph.D. erhielt er von der ETH Lausanne. Von 1995 bis 1998 war er Mitarbeiter und später Leiter des Signal Processing Laboratory der National Institutes of Health in Washington D.C. Seine Arbeit wurde mit einem Small-Business-Innovation-Research-Stipendium honoriert. Später gründete Patrick Brigger eine US-amerikanische Softwareentwicklungs- und IT-Beratungsfirma in New York. Zur selben Zeit arbeitete er beim IBM T.J. Watson Research Center in Hawthorne, New York. 1999 gründete er getAbstract mit. 2005 zogen Patrick Brigger und Mitgründer Thomas Bergen in die USA und bauten dort den amerikanischen Markt auf. Er ist Vorsitzender des Verwaltungsrates und COO. 

In unserer Reihe »Standpunkte« bieten wir von Zeit zu Zeit engagierten Akteuren aus den Bereichen Weiterbildung, Personalentwicklung und Wissensmanagement die Möglichkeit, sich mit einem aktuellen Thema an unsere Leser zu wenden. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt weisen wir darauf hin, dass diese Artikel ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wiedergeben und nicht zwangsläufig mit der Auffassung der Redaktion in Einklang zu bringen sind.

 

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