Weniger Job, mehr Leben? Warum das nicht ganz aufgeht

Satz Bürouhren, die verschiedene Zeiten isoliert auf weißem Hintergrund zeigen

Individuelle Arbeitszeitverkürzung trifft auf kollektives Mehr

Immer mehr Menschen in Deutschland reduzieren ihre Arbeitszeit – freiwillig oder aus Notwendigkeit. Der neue IAQ-Report zeigt: Im Durchschnitt arbeiten Erwerbstätige heute kürzer als vor zwanzig Jahren. Doch in der Summe steigt das Arbeitsvolumen, weil mehr Menschen erwerbstätig sind.

Diese gegenläufige Entwicklung verändert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die gesellschaftliche Balance zwischen Erwerbsarbeit, Freizeit und Engagement.

Der stille Wandel der Arbeitszeit

Laut Angelika Kümmerling vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten in den letzten Jahren leicht gesunken. Gleichzeitig hat sich Teilzeit in nahezu allen Berufsgruppen etabliert – besonders bei Frauen, aber zunehmend auch bei Männern.

Hinter dem Trend stecke, so das IAQ, ein komplexes Zusammenspiel von Lebensentwürfen, Arbeitsmarktpolitik und betrieblicher Flexibilisierung.

Teilzeit ist Normalität – mit Schattenseiten

Die Autorin betont, dass Teilzeitarbeit längst kein Randphänomen mehr ist. In vielen Branchen gilt sie als Standardlösung, um Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu sichern. Allerdings führe sie oft zu geringeren Einkommen, begrenzten Aufstiegschancen und schlechterer sozialer Absicherung.

Das IAQ warnt, dass diese Schieflage langfristig die Altersarmut verstärken könnte – besonders bei Frauen, die weiterhin den Großteil der Sorgearbeit übernehmen.

Mehr Menschen, mehr Arbeit – aber anders verteilt

Während Individuen im Schnitt weniger arbeiten, wächst das gesamte Arbeitsvolumen, weil die Erwerbsbeteiligung steigt. Besonders auffällig ist der Anstieg bei älteren Beschäftigten und bei Frauen. Kümmerling sieht darin einerseits einen Erfolg arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, andererseits ein Signal dafür, dass Einkommen aus Erwerbsarbeit für viele Haushalte unverzichtbar bleibt. Das Ideal der »freien Zeit für alle« rücke damit in weite Ferne.

Zeitwohlstand bleibt ein Privileg

Wer über seine Arbeitszeit frei verfügen kann, gehört weiterhin zu einer privilegierten Minderheit. Beschäftigte mit niedrigen Löhnen oder unsicheren Verträgen hätten laut IAQ kaum Spielräume für persönliche Zeitgestaltung. Auch Hochqualifizierte litten zunehmend unter Entgrenzung: Flexibilität bedeute oft permanente Erreichbarkeit.

Der »Zeitwohlstand« – also die Möglichkeit, Arbeit, Familie und gesellschaftliches Engagement in Balance zu bringen – bleibe ungleich verteilt.

Gesellschaftliches Engagement unter Druck

Kümmerling sieht in der Entwicklung eine Gefahr für das soziale Gefüge. Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe und politische Beteiligung bräuchten verlässliche Zeitressourcen. Wenn Arbeit sich immer stärker ausdehne – räumlich, digital und mental – bleibe weniger Raum für gemeinschaftliches Handeln.

Das könne, so das IAQ, langfristig die demokratische Kultur schwächen, die auf freiwilligem Engagement beruhe.

Bildungspolitik als Schlüssel

Der Report plädiert dafür, Arbeitszeitpolitik nicht isoliert zu betrachten. Weiterbildung, Qualifizierung und lebenslanges Lernen müssten stärker mitgedacht werden, um flexible Erwerbsbiografien zu ermöglichen. Menschen bräuchten nicht nur weniger, sondern auch sinnvollere Arbeit. Eine gezielte Förderung von Bildungszeiten könne helfen, gesellschaftliches Engagement und berufliche Entwicklung besser zu verbinden.

Politik zwischen Flexibilisierung und Absicherung

Die Politik stehe vor einem Dilemma: Einerseits fördere sie flexible Arbeitsformen, andererseits müsse sie Sicherheit gewährleisten.

Das IAQ fordert, Arbeitszeitmodelle so zu gestalten, dass Beschäftigte echte Wahlfreiheit haben – ohne ökonomischen Druck. Dazu gehöre auch, das Sozialversicherungssystem an neue Erwerbsrealitäten anzupassen.

Ein Balanceakt mit offenem Ausgang

Deutschland erlebt eine leise, aber tiefgreifende Verschiebung im Verhältnis von Arbeit und Leben. Individuell wächst der Wunsch nach mehr Zeit, kollektiv jedoch bleibt der Arbeitsdruck hoch.

Der IAQ-Report zeigt: Arbeitszeitverkürzung ist kein Selbstzweck, sondern Teil einer größeren Frage – wie eine Gesellschaft den Wert von Arbeit, Freizeit und Gemeinsinn neu austariert. 


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