Arbeitszeit in Deutschland: Zwischen Rekordvolumen und dem Wunsch nach Reduktion

WZB

Eine Analyse auf Basis der Thesen von Jianghong Li (WZB; wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Gesundheit und soziale Ungleichheit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Themen Sozialstaat und soziale Ungleichheit)

Einleitung: Das Spannungsfeld der modernen Arbeitswelt

Der deutsche Arbeitsmarkt offenbart ein zentrales Paradoxon der modernen Arbeitswelt: Einerseits erreicht die durchschnittliche wöchentliche Pro-Kopf-Arbeitszeit mit fast 29 Stunden ein Rekordhoch seit 1990, angetrieben vor allem durch die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen. Andererseits wächst in der Bevölkerung unübersehbar der Wunsch nach einer Reduzierung der individuellen Arbeitslast. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten möchte weniger arbeiten, doch die Realisierung dieses Wunsches erweist sich als schwierig. Dieses Spannungsfeld zwischen kollektivem Arbeitsvolumen und individuellem Zeitwohlstand birgt erhebliche Konsequenzen für Gesundheit, Familie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Um diese vielschichtigen Auswirkungen zu analysieren, dient die Forschung der WZB-Wissenschaftlerin Jianghong Li als theoretischer Rahmen. Ihre multidisziplinäre Arbeit beleuchtet die Schwellenwerte, ab denen Arbeitszeit gesundheitlich und sozial schädlich wird, und zeigt auf, wie lange Arbeitszeiten das Familienleben belasten und die gesellschaftliche Teilhabe erodieren.

Dieser Aufsatz konfrontiert die Erkenntnisse von Jianghong Li mit aktuellen Daten und Trends des deutschen Arbeitsmarktes. Ziel ist es, die treibenden Kräfte hinter der aktuellen Entwicklung zu beleuchten, die tiefen Diskrepanzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu analysieren und potenzielle Lösungsansätze zu bewerten.

Im Folgenden werden zunächst die wissenschaftlichen Thesen von Jianghong Li detailliert dargelegt, um eine fundierte Grundlage für die Analyse der deutschen Situation zu schaffen.

Der wissenschaftliche Rahmen: Jianghong Lis Analyse der Arbeitszeitfolgen

Die Forschung von Jianghong Li bietet eine entscheidende multidisziplinäre Grundlage, um die weitreichenden Auswirkungen von Arbeitszeit auf das menschliche Wohlergehen zu verstehen. Sie argumentiert, dass die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden weit mehr als nur eine ökonomische Kennzahl ist – sie ist eine zentrale Determinante für individuelle Gesundheit, familiäre Stabilität und gesellschaftliche Vitalität. Li betont, dass Arbeitszeit nicht allein von Ökonomen betrachtet werden kann. Familiensoziologen untersuchen den Konflikt oder die Bereicherung zwischen Arbeit und Familie, während Gesundheitsforscher die Entwicklung von Kindern in Abhängigkeit von elterlichen Zeitressourcen analysieren. Lange Arbeitszeiten werden als sozialer Einflussfaktor auf die Bevölkerungsgesundheit gesehen, da sie Stress verursachen und Zeit für gesundheitsfördernde Aktivitäten rauben. Für Politikwissenschaftler wiederum ist freie Zeit eine notwendige Ressource für die politische Partizipation, die unter dem Druck von Vollzeitarbeit leidet. All diese Perspektiven eint die Einsicht, dass Zeit ein endliches Gut ist, dessen Verbrauch in der Erwerbsarbeit es für andere Lebensbereiche unzugänglich macht.

Aufbauend auf dieser multidisziplinären Sichtweise synthetisiert Li überzeugende empirische Evidenz für klare gesundheitliche Schwellenwerte. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) definiert bereits über 48 Stunden pro Woche als »lange Arbeitszeit«. Eine großangelegte Studie von Kivimäki et al. belegt, dass eine Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden das Risiko für Schlaganfälle und Herzkrankheiten signifikant erhöht. Die Forschung von Bannai und Tamakoshi setzt die Schwelle sogar noch niedriger an: Bereits bei mehr als 40 Stunden pro Woche steigt das Risiko für psychische und physische Probleme wie Depressionen, Angstzustände und Schlafstörungen.

Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext die von Li zitierte australische Studie von Dinh et al., die unterschiedliche Belastungsgrenzen für Männer und Frauen ermittelt. Während die psychische Gesundheit von Männern ab einer Wochenarbeitszeit von 43,5 Stunden leidet, liegt dieser Schwellenwert bei Frauen bereits bei 38 Stunden. Li führt diesen Unterschied explizit auf die höhere Belastung von Frauen durch unbezahlte Sorge- und Haushaltsarbeit zurück. Diese Doppelbelastung erklärt, warum Teilzeitarbeit bei Frauen in entwickelten Volkswirtschaften weit verbreitet ist und bleibt, solange sich die ungleiche Verteilung der unbezahlten Arbeit nicht ändert.

Die Forschung zeigt zudem direkte negative Folgen langer elterlicher Arbeitszeiten auf die kindliche Entwicklung. Eine in Deutschland durchgeführte Studie belegt einen Zusammenhang zwischen einer Arbeitszeit der Mutter von über 35 Stunden pro Woche und einem höheren Body-Mass-Index bei Vorschulkindern. In Australien wurde festgestellt, dass sehr lange Arbeitszeiten der Väter (über 55 Stunden pro Woche) mit Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität und Hyperaktivität bei Jungen korrelieren. Schließlich haben lange Arbeitszeiten messbare negative Auswirkungen auf das zivilgesellschaftliche Engagement. Daten aus 24 europäischen Ländern zeigen, dass eine Wochenarbeitszeit von mehr als 45 Stunden mit einer geringeren Wahlbeteiligung verbunden ist, insbesondere bei Frauen. Ebenso verringern lange Arbeitszeiten die Zeit und Energie für ehrenamtliches Engagement.

Zusammenfassend warnt Li eindringlich vor den Folgen einer Arbeitskultur, die lange Arbeitszeiten normalisiert. Das Ergebnis sei eine gesundheitlich eingeschränkte und sozial entfremdete Erwerbsbevölkerung, die langfristig weder produktiv noch in der Lage ist, Wohlstand zu sichern. Diese Thesen bilden den kritischen Maßstab für die folgende Analyse der aktuellen Situation in Deutschland.

Wunsch und Wirklichkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt

Die deutsche Arbeitszeit-Landschaft ist von tiefen Widersprüchen geprägt. Um das aktuelle Bild zu verstehen, ist es entscheidend, sowohl die makroökonomischen Trends des gesamten Arbeitsvolumens als auch die individuellen Präferenzen und Belastungen der Beschäftigten zu analysieren. Beide Entwicklungen laufen in entgegengesetzte Richtungen und erzeugen ein Spannungsfeld mit erheblichen sozialen Konsequenzen.

Makro-Trend: Pro-Kopf-Arbeitszeit auf Rekordniveau

Auf den ersten Blick scheint die Gesamtarbeitsleistung in Deutschland so hoch wie nie. Die durchschnittliche wöchentliche Pro-Kopf-Arbeitszeit, verteilt auf die gesamte Bevölkerung, hat mit fast 29 Stunden ein Rekordniveau seit 1990 erreicht. Dieser Anstieg ist jedoch nicht auf eine Verlängerung der individuellen Arbeitszeit zurückzuführen, sondern primär auf die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen. Ihre durchschnittliche Wochenarbeitszeit stieg von rund 19 Stunden im Jahr 1991 auf über 24 Stunden im Jahr 2022. Demgegenüber hat sich die Arbeitszeit der Männer nach einem Rückgang in den 1990er und frühen 2000er Jahren wieder auf dem Niveau der frühen 1990er Jahre stabilisiert, obwohl auch sie heute häufiger erwerbstätig sind als damals.

Der individuelle Wunsch: Die wachsende Kluft zur Realität

Während die kollektive Arbeitsleistung steigt, wächst bei den Einzelnen der Wunsch nach Entlastung. Zwei aktuelle Erhebungen quantifizieren die Diskrepanz zwischen gewünschter und tatsächlicher Arbeitszeit eindrücklich:

Quelle/Studie

Kernaussage zur Arbeitszeitreduktion

BAuA-Arbeitszeitbefragung 2023       

57 Prozent der Beschäftigten wünschen sich eine kürzere Arbeitszeit.

DGB-Index Gute Arbeit 2025               

53 Prozent der Beschäftigten möchten ihre Arbeitszeit verkürzen, im Durchschnitt um 4,2 Stunden.

 

Diese Zahlen zeigen, dass mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen ihre aktuelle Arbeitslast als zu hoch empfindet. Besonders deutlich wird die Kluft bei der Umsetzung dieser Wünsche. Daten der BAuA belegen, dass eine Arbeitszeitreduzierung deutlich schwieriger zu realisieren ist als eine Aufstockung: Während 73 Prozent derjenigen, die ihre Arbeitszeit verlängern wollten, dies erfolgreich umsetzen konnten, gelang dies nur 31 Prozent der Beschäftigten mit einem Reduktionswunsch.

Das Paradoxon: Weniger Arbeit pro Kopf, mehr Arbeit im Kollektiv

Der IAQ-Report des Instituts Arbeit und Qualifikation bringt den zentralen Widerspruch auf den Punkt: Während die individuelle durchschnittliche Arbeitszeit von Erwerbstätigen tendenziell sinkt, steigt das gesamte Arbeitsvolumen der Volkswirtschaft. Dieser Effekt entsteht durch die gestiegene Erwerbsbeteiligung, insbesondere bei Frauen und älteren Beschäftigten. Es arbeiten also mehr Menschen, aber im Schnitt individuell kürzer.

Diese Entwicklung führt jedoch nicht zu einer breiten Entlastung. Das IAQ führt den Begriff des »Zeitwohlstands« ein – die Möglichkeit, Arbeit, Familie und Engagement frei in Balance zu bringen – und stellt fest, dass dieser ungleich verteilt ist und für viele ein Privileg bleibt. Die gestiegene Arbeitslast ist auf mehr Schultern verteilt, doch der Druck auf den Einzelnen bleibt hoch oder nimmt sogar zu.

Die zentrale Rolle, die die Frauenerwerbstätigkeit in all diesen Entwicklungen spielt, erfordert eine gesonderte und tiefere Analyse ihrer spezifischen Situation.

Die geschlechtsspezifische Dimension: Frauen als Motor und Leidtragende der Entwicklung

Eine Gender-Perspektive ist für das Verständnis des deutschen Arbeitsmarktes unerlässlich. Die Erwerbsbiografien von Frauen prägen die aktuellen makroökonomischen Statistiken maßgeblich, legen aber gleichzeitig tief verankerte strukturelle Ungleichheiten offen. Frauen sind der Motor des gestiegenen Arbeitsvolumens, tragen aber auch die Hauptlast der damit verbundenen Kompromisse.

Ein zentrales Merkmal des deutschen Arbeitsmarktes ist die im EU-Vergleich extrem hohe Teilzeitquote. Die Daten des Statistischen Bundesamtes für 2024 verdeutlichen die Dimension:

  • Teilzeitquote Deutschland: 29 Prozent
  • Teilzeitquote EU-Durchschnitt: 18 Prozent
  • Teilzeitquote Frauen in DE: 48 Prozent
  • Teilzeitquote Männer in DE: 12 Prozent

Fast die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen in Deutschland arbeitet in Teilzeit – ein Wert, der weit über dem europäischen Durchschnitt liegt. Der DGB-Index Gute Arbeit liefert die entscheidende Begründung: Der wichtigste Grund für Teilzeitarbeit ist die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Wer die Kinderbetreuung überwiegend selbst übernimmt, arbeitet im Schnitt 28 Stunden wöchentlich. Diese Sorgearbeit wird nach wie vor überwiegend von Frauen geleistet.

Obwohl Teilzeit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht, warnt der IAQ-Report vor ihren Schattenseiten: Sie führt oft zu geringerem Einkommen, begrenzten Aufstiegschancen und einem erhöhten Risiko für Altersarmut. Deutschlands Arbeitsmarkt dient somit nicht nur als Abbild einer Präferenz für Teilzeitarbeit, sondern als groß angelegte Fallstudie, die Lis These zu den strukturellen Ursachen geschlechtsspezifischer Arbeitsmuster bestätigt. Die von Dinh et al. ermittelte niedrigere gesundheitliche Belastungsgrenze für Frauen (38 Stunden) findet in der deutschen Realität ihre empirische Entsprechung. Dieses Muster legt nahe, dass die verbreitete Teilzeitarbeit bei Frauen weniger ein Ausdruck individueller Präferenz als vielmehr eine strukturell erzwungene Anpassung an eine ungleiche Verteilung unbezahlter Sorgearbeit ist, was sie zu einer Frage der sozialen und physischen Notwendigkeit macht.

Die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen, die aus diesen tief verwurzelten Mustern resultieren, sind gravierend und werden im folgenden Abschnitt beleuchtet.

Konsequenzen für Gesundheit und Gesellschaft in Deutschland

Die in deutschen Umfragen dokumentierten Belastungen bestätigen die theoretischen Warnungen von Jianghong Li in der Praxis. Die Diskrepanz zwischen gewünschter und tatsächlicher Arbeitszeit ist nicht nur eine statistische Größe, sondern hat tiefgreifende Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden und den sozialen Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft.

Individuelle Gesundheit und Wohlbefinden

Der Bericht der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zeichnet ein klares Bild der gesundheitlichen Folgen. Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit reduzieren möchten, aber nicht können, berichten signifikant häufiger von konkreten Belastungssymptomen:

  • Schlafprobleme
  • Chronische Müdigkeit
  • Erschöpfung
  • Niedergeschlagenheit

Diese Befunde sind eine direkte Bestätigung von Lis Thesen. Die genannten Symptome sind anerkannte Vorstufen der schwerwiegenderen klinischen Risiken, die in Lis Quellen identifiziert wurden, wie Depressionen, Angstzustände und Herzerkrankungen. Die psychische und physische Belastungsgrenze wird für einen großen Teil der Erwerbstätigen überschritten. Dies spiegelt sich auch in der Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance wider: Während 88-89 Prozent derjenigen, die ihre Arbeitszeit beibehalten oder verlängern wollen, mit ihrer Balance zufrieden sind, trifft dies nur auf 76 Prozent der Beschäftigten mit Reduktionswunsch zu.

Gefährdung des sozialen Zusammenhalts

Sowohl der IAQ-Report als auch die Forschung von Jianghong Li warnen vor den negativen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Engagement. Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe und politische Beteiligung sind das Fundament einer funktionierenden Zivilgesellschaft, doch sie erfordern Zeitressourcen. Wenn Arbeit durch lange Stunden und zunehmende Entgrenzung immer mehr Raum im Leben der Menschen einnimmt, bleibt weniger Kapazität für gemeinschaftliches Handeln.

Diese Entwicklung stellt eine langfristige Gefahr für die demokratische Kultur dar, die auf freiwilligem Engagement und aktiver Partizipation beruht. Ein Mangel an Zeitwohlstand führt nicht nur zu individueller Erschöpfung, sondern auch zu einer Erosion des sozialen Gefüges.

Angesichts dieser negativen Konsequenzen stellt sich die Frage, welche Lösungsansätze diskutiert werden, um den wachsenden Belastungen entgegenzuwirken.

Lösungsansätze im Fokus: Die Vier-Tage-Woche und der Ruf nach Flexibilität

Die intensive Debatte um neue Arbeitszeitmodelle ist eine direkte Reaktion auf die beschriebenen Herausforderungen. Insbesondere die Vier-Tage-Woche hat an Popularität gewonnen und wird von Unternehmen zunehmend als strategisches Instrument zur Mitarbeiterbindung und -gewinnung verstanden.

Eine Analyse der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass das Modell in der Praxis ankommt, wenn auch auf niedrigem Niveau: Der Anteil der Stellenausschreibungen mit Vier-Tage-Woche stieg von 0,008 Prozent (2019) auf 0,12 Prozent (2024). Die Untersuchung offenbart jedoch eine entscheidende Einschränkung: Das dominierende Modell ist mit 40,3 Prozent die »verdichtete Vollzeit«, bei der die gleiche Stundenzahl auf weniger Tage verteilt wird. Die »verkürzte Vollzeit« bei vollem Lohnausgleich ist mit nur 4,83 Prozent eine seltene Ausnahme.

Diese Dominanz der Arbeitszeitverdichtung ist aus arbeitswissenschaftlicher Sicht kritisch zu bewerten. Ein 40-Stunden-Pensum an vier Tagen bedeutet Zehn-Stunden-Arbeitstage, die den Stress und die Erschöpfung potenziell verschärfen können. Damit steht das populärste Lösungsmodell in direktem Widerspruch zu den von Jianghong Li zusammengetragenen Erkenntnissen über die Gesundheitsrisiken langer Arbeitszeiten. Anstatt das Problem zu lösen, droht eine bloße Rekonfiguration, die die Belastung für den Einzelnen sogar noch erhöht. Die Bertelsmann Stiftung kommt daher zu dem Schluss, dass die Vier-Tage-Woche kein Selbstzweck sein darf. Um erfolgreich zu sein, muss sie als Einstieg in eine insgesamt flexiblere und bedürfnisorientierte Arbeitszeitgestaltung verstanden werden.

Synthese und Resümee: Ein Balanceakt für die deutsche Arbeitsgesellschaft

Die vorliegende Analyse zeichnet das Bild eines deutschen Arbeitsmarktes, der von einem tiefen Spannungsfeld geprägt ist: Einem statistischen Rekord an geleisteter Pro-Kopf-Arbeit, angetrieben durch eine höhere Erwerbsbeteiligung, steht der massive Wunsch vieler Beschäftigter nach mehr Zeit und Entlastung gegenüber. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Jianghong Li liefern den theoretischen Rahmen, um die schwerwiegenden Konsequenzen dieser Diskrepanz für Individuen und Gesellschaft zu bewerten.

Drei Kernkonflikte kristallisieren sich heraus:

  1. Der Zielkonflikt zwischen makroökonomischem Arbeitsvolumen und mikrosozialer Belastungsgrenze: Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen steigt, um Wohlstand zu sichern. Gleichzeitig wird die individuelle Belastungsgrenze, wie von Jianghong Li wissenschaftlich untermauert, für eine Mehrheit überschritten, was zu erheblichen gesundheitlichen und sozialen Kosten führt.
  2. Die strukturelle Ungleichheit der Geschlechter: Die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit ist der Motor des Wachstums, findet aber überwiegend in Teilzeit statt. Dies zementiert die Doppelbelastung durch Sorgearbeit und schafft langfristige ökonomische Nachteile für Frauen, wie geringere Einkommen und Altersarmut.
  3. Der Wunsch nach Flexibilität vs. die Realität der Umsetzung: Obwohl Modelle wie die Vier-Tage-Woche diskutiert werden, bleibt die Reduzierung von Arbeitszeit für Einzelne schwierig. Populäre neue Modelle laufen zudem Gefahr, Arbeit lediglich zu verdichten, anstatt sie wirklich zu reduzieren und zu entlasten.

Die entscheidende Erkenntnis dieser Analyse ist, dass politische oder betriebliche Ansätze, die lediglich auf die Steigerung der Erwerbsbeteiligung oder auf schematische Flexibilitätsmodelle abzielen, unzureichend sind. Die zentrale Herausforderung für Politik und Unternehmen besteht darin, »Zeitwohlstand« nicht als Lifestyle-Privileg zu behandeln, sondern als kritische Infrastruktur für die öffentliche Gesundheit, den sozialen Zusammenhalt und die langfristige ökonomische Resilienz. Eine zukunftsfähige Arbeitswelt erfordert eine Neuaustarierung von Erwerbsarbeit, individuellem Wohlbefinden und gesellschaftlichem Engagement.

Bibliographie:
Jianghong Li, »Mehr ist nicht immer besser. Zum Verhältnis von Wochenarbeitszeit und Wohlergehen«, in: WZB-Mitteilungen Nr. 190: »Zahlen«


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