Widersprüche kann man lieben
Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Kurt Völkl und Heinz Peter Wallner.
Wer Entscheidungen treffen muss oder möchte, trifft regelmäßig auf Widersprüche, die uns an die Grenzen der Logik führen.
Wir können an diesen Widersprüchen verzweifeln, uns mit ihnen aussöhnen oder nach intelligenten Lösungen suchen. Gerade letzteres scheint uns oftmals unmöglich. Dabei sind die Auflösung von Widersprüchen und die Suche nach intelligenten Lösungen weniger komplex als man denkt. »Das kann sogar spielerisch gelingen. Dazu gibt es einige Regeln und Prinzipien, die sehr nützlich sind und die jeder kennen sollte«, meinen Heinz Peter Wallner und Prof. Kurt Völkl.
Überall und jederzeit stehen uns Informationen zur Verfügung. Leicht kommen wir deshalb zur Annahme, nahezu alles entscheiden zu können. Sobald man uns mehr Zeit gäbe, wir mehr Informationen sammeln können, würden wir jedes noch so komplexe Problem lösen. Doch so leicht geht es nun doch nicht. Allzu viele Dinge bleiben unvorhersehbar. Und in solchen Situationen können mehr Zeit und mehr Information auch nicht mehr helfen. Entscheidungsexperten, wie Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, raten dazu, mutig auf den Bauch zu hören und der Intuition eine Chance zu geben. Komplexe Probleme brauchen manchmal einfache, heuristische Zugänge zur Lösung. Der Bauch, das gefühlte Wissen, ist dann gefragt, nicht die Logik.
Die Krankheit im Denken
Eine weitere Grenze der Logik erschwert es uns, die richtige Entscheidung zu fällen. Es ist das Denken des Abendlandes, von vielen leider als das »einzig richtige« Denken etikettiert, das uns mit drei Axiomen (= Grundannahmen) von Kind auf geprägt hat, wie das der Wiener Professor, Herbert Pietschmann, ausführt. Erstens muss, nach dem Satz der Identität, die Eindeutigkeit aller Begriffe gegeben sein. Beispielsweise: »Ich bin evangelisch« meint, dass ich ausschließlich dieser Religion angehöre und keiner anderen. Als zweites Axiom begleitet uns der Satz vom Widerspruch. Er besagt, im Falle zweier einander widersprechender Aussagen, wäre mindestens eine falsch. Niemals könnten beide richtig sein. Daraus leitet sich eine »Krankheit im Denken« ab, die wir den »Richtig-Falsch-Wahn« nennen können. Schließlich kennen wir als drittes Axiom den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Bei einem Widerspruch hat eine Seite recht und eine unrecht. Etwas ist schwarz oder eben nicht schwarz. Eine der beiden Möglichkeiten muss richtig sein und eine dritte Möglichkeit ist ausgeschlossen. Diese Axiome der Logik sind zu unseren Denkgewohnheiten geworden. Obwohl das Leben uns mit vielen Situationen konfrontiert, die nicht in dieses logische Korsett passen, halten wir gewohnheitsbedingt daran fest. Der einzige Ausweg aus dieser Form des Widerspruchs ist der »Weg nach oben«, die Suche nach einer Synthese, in der sich beide harmonisch vereinen. Herbert Pietschmann nennt diesen Widerspruch eine Aporie. Unser Leben steckt, wenn wir genau hinsehen, voller Aporien. Daraus können wir schließen, dass jeder ernsthafte Widerspruch in unserem Leben eine Quelle der Entwicklung ist, weil in ihm die Lösung auf höherer Ebene schon angelegt ist.
Die Logik stößt an ihre Grenze
Informationen haben wir in Hülle und Fülle und dennoch ist unsere Information immer unvollständig. Vereinfacht gesagt, gibt es in widerspruchsfrei scheinenden Systemen immer eine nicht beweisbare Aussage. In der Mathematik wird das der Gödelsche Unvollständigkeitssatz genannt. Systeme können ihre Widerspruchsfreiheit nicht beweisen. Bertrand Russell formulierte das Barbier-Paradoxon: »Man kann einen Barbier als einen definieren, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Die offene Frage ist dann: rasiert sich der Barbier selbst? Dieses Gedankenspiel hat wichtige Konsequenzen für unser Leben. Wir können von einer Sache aus den bisherigen Überlegungen ausgehen: Das Leben konfrontiert uns mit vielen sehr komplexen Situationen. Die Rationalität und die Logik kommen dabei an die Grenzen und wir müssen einerseits auf das gefühlte Wissen – die Intuition – zurück greifen und andererseits anerkennen, dass es immer »nicht entscheidbare Widersprüche« in unserem Leben geben wird. Es sind das Widersprüche, die wir nicht durch unsere Logik lösen können, die aber dennoch zur Entscheidung drängen, weil es das Leben von uns verlangt.
Frei oder kuschelig?
Angenommen, sie müssten eine Entscheidung treffen zwischen einem Leben in Freiheit und einem Leben in Zugehörigkeit. In einem Fall sind Sie frei, aber sehr einsam, im zweiten Fall sind Sie weniger frei, aber in einer Gemeinschaft. Sie spüren es gleich, dieser Widerspruch ist nicht logisch entscheidbar. Würden Sie sich für Freiheit entscheiden, wären Sie den Stürmen des Lebens als Einhandsegler vollkommen schutzlos ausgeliefert. Entschieden Sie sich für die Zugehörigkeit, sähen Sie sich in voller Abhängigkeit, den Bedürfnissen anderer ausgesetzt und letztlich willenlos. Warum diese Übertreibungen? Immer, wenn wir uns im Leben in einer nicht entscheidbaren Situation für eine Seite – wir können sagen für einen der beiden einander widersprechenden Pole entscheiden – fallen wir in den eigenen Schatten, in die negative Überhöhung, meint Herbert Pietschmann.
Wir können noch weitere Fragen stellen: Wollen Sie lieber kreativ oder organisiert sein, wollen Sie lieber eine Vorgabe oder Selbstverantwortung leben, schätzen Sie Flexibilität oder brauchen Sie eine Check-Liste, beschäftigen Sie sich lieber mit Ihrer Vergangenheit oder setzen Sie auf Ziele und Zukunft, entscheiden Sie lieber allein oder im Team, setzen Sie auf Selbstverwirklichung oder auf eine sinnerfüllte Gemeinschaft, vertrauen Sie Ihrem Geist oder Ihrem Herz? Und die wichtigste Frage überhaupt: Wollen Sie bleiben wer und wie Sie sind, oder wollen Sie sich von Grund auf verändern? Auf alle diese Fragen gibt es nur eine Möglichkeit als Antwort: Ich will das Gute von beiden Seiten und mich zu einer Lösung auf höherer Ebene emporschwingen.
Vom Umgang mit den Widersprüchen
Widersprüche sind nicht angenehm, es gibt aber eine gute Nachricht: Jeder Widerspruch bringt uns zwischen »zwei Pole« und versieht uns mit einer Art Spannung des Lebens. Genau diese Spannung kann den Strom des Lebens wieder ins Fließen bringen. Wenn uns die Widersprüche belasten, dann haben wir nur deren Kraft noch nicht erkannt. Im beruflichen Umfeld leiden Menschen oft unter dem Verhältnis zwischen Mitarbeiter und Führungskraft. Ständige Begleiter in diesem Duo sind die Widersprüche »Vertrauen oder Kontrolle« und »Distanz oder Nähe«. Wenn aus diesen Widersprüchen Konflikte entstehen, die Menschen schwer beladen durchs Leben gehen lassen, dann hilft hier nur ein »Dialog-Prozess«. Keine schnelle Entscheidung kann das Problem aus der Welt schaffen. Darum gibt es für das »innere Spiel« auch eine neue Spielregel: »Entscheide nicht gleich, initiiere einen Prozess«.
Einige hilfreiche Fragen, die Sie in wenigen Minuten beantworten können:
- Welche Widersprüche belasten mich besonders stark?
- Welche davon sind die schmerzlichsten?
- Mit welchen Widersprüchen kann ich beginnen, mich auszusöhnen? (aussöhnen heißt, mit Bereitwilligkeit innerlich bejahen)
- Mit welchen Widersprüchen aber kann und will ich nicht leben?
Somit gibt es nur einen Weg, der mit der Zeit zu einer guten Lösung führen kann. Dieser ist einerseits beschwerlich, andererseits aber auch lustvoll spielerisch. Wenn Sie ihn gehen, führt er Sie auf eine höhere Ebene. Aber Vorsicht, damit ist dann vielleicht eine radikale Veränderung in Ihrem Leben verbunden!
Prinzipien für komplexe Entscheidungsvorhaben
Was können wir nun praktisch tun, um mit scheinbar unlösbaren Widersprüchen umzugehen? Es bieten sich sechs Prinzipien an, um in kniffligen Situationen aus einem unlösbaren Widerspruch einen Erfolgsweg zu machen. Einige dieser Prinzipien haben viele Väter, bei Rüdiger Dahlke haben wir eine besonders ausführliche Darstellung gefunden, dort werden sie Schicksalsgesetze genannt. Für die direkte Umsetzung in einer komplexen Lebenssituation, stellt »Das innere Spiel« zu jedem Erfolgsprinzip praktische Fragen, um zu einem klareren Bild zu kommen:
Das Prinzip Anfang und Ende
Ich schenke dem Anfang meines Vorhabens große Bedeutung, in ihm steckt schon viel, was mich auf dem Weg erwartet. Und ich denke am Anfang das Ende gleich mit. Wo stehen ich heute und warum? Wohin führt mich der Weg, den ich gerade gehe? Ich zeichne ein Zukunftsbild mit wenigen Pinselstrichen. Gefällt mir das Bild?
Das Prinzip Polarität
Welcher Widerspruch – welche Polarität des Lebens – belastet mich derzeit am meisten? Ich beginne genau damit. Ich setze einen bewussten Gegenpol als Neuanfang.
Das Prinzip Resonanz
Welche Resonanzen – das sind Schwingungen, Gefühle, die aufsteigen, weil mich etwas belastet oder etwas begeistert – breiten sich in mir aus? Was fühlt sich gut an und was fördere ich? Was ersticke ich in mir oder in anderen?
Das Prinzip doppelte Entscheidung
Ich frage zuerst meinen Bauch und dann mein Herz: Welche Entscheidung steht in meinem Leben an? Dabei ist wieder meine Intuition wichtig, also der erste schnelle Gedanke, der aufgestiegen ist. Ich frage dann meinen Geist nach einer Erkenntnis: Welche Entscheidungen zur Wiederholung treffe ich ständig? Was wiederhole ich aus Gewohnheit? Ist das für mich nährend oder belastend? Was leitet mich an, genau diese eine Sache immer wieder zu wiederholen?
Das Prinzip Wiederholung
Welche Gewohnheiten spielen für meinen Konflikt eine wichtige Rolle? Welche Denkgewohnheit oder welche Routine in meinem Tun belastet mich? Ich bedenke dabei: Alles, was ich durch Wiederholung gelernt habe, kann ich durch eine andere Wiederholung auch wieder verlernen. Ich kann so eine alte Gewohnheit durch eine neue ersetzen.
Das Prinzip Ordnungsmuster
Wie lebendig fühle ich mich? Wo keimt das Leben mit angenehmen oder belastenden Gefühlen in mir auf? Wie kann ich in meinem Leben für mehr Lebendigkeit sorgen? Welches meiner Bedürfnisse braucht mehr Anerkennung? Welche Bedürfnisse anderer Menschen brauchen mehr von meiner Anerkennung?
Sobald man sich diesen Fragen und deren Antworten ehrlich stellt, wird man bemerken, dass mehr Klarheit in das »verwuselte Problem« dringt. Man muss sich jedoch ausgiebig lange und geduldig mit den Erfolgsprinzipien beschäftigen – eine Husch-Husch-Lösung wird hier nicht geboten. Dafür aber ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem Thema Widerspruch und der persönlichen, positiven Weiterentwicklung, ohne die ein wirklich entspanntes und gleichermaßen erfolgreiches Leben kaum möglich scheint. Schütteln wir also den Würfelbecher und lassen das »innere Spiel« beginnen – für mehr Klarheit und Freude am Meistern des Alltags.
Zu den Autoren:
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Kurt Völkl ist Generaldirektor einer österreichischen Sozialversicherung, Lehrender an der Karl-Franzens-Universität Graz und Sachbuchautor. Er ist seit 20 Jahren in Top-Managementpositionen mit Veränderung konfrontiert. In dieser Zeit hat er zahlreiche Change-Projekte und Führungsentwicklungsvorhaben umgesetzt. Gemeinsam mit dem Co-Autor ist er Entwickler des »train the eight«-Veränderungsmodells.
Dr. Heinz Peter Wallner ist Change Berater, Führungskräfteentwickler und Coach. Mit seinem Beratungsunternehmen Wallner & Schauer betreibt er ein Büro in Graz und in Wien. Seine langjährige Erfahrung aus vielen Change-Projekten und aus der Arbeit an der ganzheitlichen Entwicklung von Menschen fließt in seine Sachbücher und in seinen Blog ein. Er versteht sich als Wegbegleiter in Zeiten der Veränderung.
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