Kontroverse um gesetzliche Anhebung des Mindestlohns

Deutscher Bundestag 4

Bericht zur öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales am 16. Mai 2022 

Die geplante gesetzliche Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro ab 1. Oktober 2022 stößt bei Verbänden und Sachverständigen auf ein geteiltes Echo. Während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagnachmittag begrüßte Stefan Körzell vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) die Erhöhung. Dies sei eine seit langem bestehende Forderung der Gewerkschaften.

Kritisch äußerte sich unter anderen Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der mit Blick auf die gesetzliche Regelung von einem fundamentalen Eingriff in die Tarifautonomie sprach.

DGB-Vertreter Körzell verwies auf eine hohe Zustimmung innerhalb der Bevölkerung für die Erhöhung des Mindestlohns. 88 Prozent fänden das in Ordnung, so Körzell. 6,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien davon betroffen - »vor allem in Ostdeutschland und vor allem Frauen«, betonte der DGB-Vertreter. Insofern schließe man damit auch zum Teil den Gender-Pay-Gap. Besondere Wirkung werde die Erhöhung in den Wirtschaftsbereichen der Gastronomie, dem Taxigewerbe, dem Einzelhandel und der Landwirtschaft entfalten. Negative Auswirkungen auf die Beschäftigung seien nicht zu erwarten, so Körzell. »Das ist kein Job-Killer«, betonte er.

Die Kritik des BDA, so Hauptgeschäftsführer Kampeter, richte sich nicht gegen eine bestimmte Lohnhöhe. »Sie richtet sich vor allen gegen das hier gewählte Verfahren.« Obwohl die Arbeit der Mindestlohnkommission über viele Jahre lang positiv bewertet wurde, sei »im Rahmen einer Wahlkampfkampagne« eine bestimmte Lohnhöhe politisch vorgegeben worden. Dies sei ein erheblicher Eingriff in die Tarifautonomie und in die konsensual gefundenen Entscheidungen der Mindestlohnkommission. Unsicher, so Kampeter, sei man mit Blick auf die Beschäftigungswirkung. Es gebe einen Kipppunkt für den Mindestlohn, ab dem eine starke negative Beschäftigungswirkung zu erwarten sei. Diesen Kipppunkt in der aktuellen Krise ausloten zu wollen, sei falsch, befand er.

Der Handelsverband Deutschland (HDE) lehne die Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns unmittelbar durch den Gesetzgeber ebenfalls ab, sagte HDE-Vertreter Steven Haarke. Damit werde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, der den gesetzlichen Mindestlohn zum Spielball der Politik werden lasse. Es sei zu befürchten, dass ein entsprechender Überbietungswettbewerb der Parteien fortan die Wahlkämpfe zu den Bundestagswahlen prägen werde, sagte Haarke.

Raimund Waltermann von der Universität Bonn hält die Neuregelung für »angemessen und verfassungskonform«. Der Einwand, das geplante Gesetz konterkariere die Entscheidung der Mindestlohnkommission, die den Mindestlohn zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro festgelegt hat, verfange nicht, urteilte er. Der Gesetzgeber dürfe an der Mindestlohnkommission vorbei gestalten.

Die Erhöhung ist nach Auffassung von Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen ein richtiger und fälliger zweiter Schritt, »nachdem im ersten Schritt der Mindestlohn niedrig angesetzt wurde«. Das Hauptproblem in der Zukunft sei aber, dass der aktuelle Anpassungszeitraum für den Mindestlohn von zwei Jahren angesichts hoher Inflationsraten nicht akzeptabel sei. »Da hängt man zu lange hinterher«, sagte Bosch und forderte eine Verkürzung auf ein Jahr.

Die geplante Ausweitung der Geringfügigkeitsgrenze bei Minijobs auf 520 Euro und die Kopplung an die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, lehnte der Politikwissenschaftler Frederic Hüttenhoff von der Universität Duisburg-Essen ab. In der Praxis kämen bei Minijobs die eigentlich verpflichtenden arbeits- und tarifrechtlichen Regelungen, wie etwa die Entgeltfortzahlung, bezahlter Mindesturlaub oder Elternzeit »nicht oder nur begrenzt zur Anwendung«. Gesetzesverstöße seien »eher die Regel als die Ausnahme«. Außerdem entfalteten Minijobs »starke Klebeeffekte« und erschwerten sowohl für Beschäftigte als auch für Unternehmen systematisch Übergänge in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, sagte Hüttenhoff.

Aus Sicht von Peggy Horn von der Minijob-Zentrale bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See sind Minijobs hingegen »wichtig für den Arbeitsmarkt«. Sie verdrängten keine sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen, sondern führten zu einer Reduzierung der Schwarzarbeit. Durch neue Geringfügigkeitsgrenzen sei im Übrigen auch keine Zunahme von Minijobs zu erwarten, wie die Vergangenheit gezeigt habe, sagte Horn.

Durch die Reform würden Beschäftigungsverhältnisse im unteren Teilzeitbereich und insbesondere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich zum Status quo attraktiver, befand Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Mit der Koppelung der Minijob-Grenze an die Entwicklung des Mindestlohns drohten eine Stärkung der geringfügigen Beschäftigung und eine Vergrößerung der mit dem Minijob-Arrangement verbundenen Probleme, sagte er. Es brauche daher eine Reform zum Abbau statt zur Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung.

Die Arbeitnehmerkammer Bremen begrüße die Erhöhung des Mindestlohns, sehe aber die Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro auf 520 Euro und ihre dynamische Anpassung an die künftige Höhe des Mindestlohns »aus arbeitsmarktpolitischer Sicht kritisch«, sagte Carsten Sieling. Er plädierte ebenfalls für eine perspektivische Absenkung der Geringfügigkeitsgrenze und die Abschaffung der Steuer- und Abgabenprivilegierung der geringfügigen Beschäftigung als Nebentätigkeit.

Durch die Mindestlohnanhebungen im Jahr 2022 entkoppelt sich laut Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln der Mindestlohn spürbar von der allgemeinen Tariflohndynamik. Allein im Jahr 2022 ergäben sich Steigerungen von 22,2 Prozent. Damit nähere sich der Mindestlohn einer kritischen Grenze, die den Arbeitsmarkt herausfordern werde »und zweifellos wirtschaftliche Auswirkungen auf die Güterpreise und auf die Unternehmensgewinne haben wird«, gab er zu bedenken.

 

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